Geschichte

Wir schreiben das Jahr 1868. In Ivrea sind die Straßen voller Kutschen und die Männer tragen dreiteilige Anzüge. Die Reichen gehen nur selten abends aus. Vielleicht einmal in der Woche genießen sie einen Abend in den Sälen der renommiertesten Hotels, wo Barkeeper wie Elvezio Grassi ihre ersten Cocktails servieren. Gewöhnliche Menschen gehen ins Theater und in die Oper – in Italien ist Oper wie Fußball.

In dieser so anderen und fernen Welt wurde Camillo Olivetti geboren. Seine Eltern sind jüdisch. Seine Mutter ist wohlhabend, sein Vater, ein Stoffverkäufer, stirbt ein Jahr nach seiner Geburt. Er wächst still und einsam auf, er macht lieber lange Spaziergänge im Wald, als mit Gleichaltrigen zu spielen. Ihn innerhalb der Schulmauern geschlossen zu halten, ist schwierig.

Camillo schloss das klassische Gymnasium mit ausgezeichneten Noten ab, schrieb sich dann am Königlichen Industriemuseum von Turin ein und machte 1891 seinen Abschluss in Elektrotechnik. Zwei Jahre arbeitete er in London, dann ein Jahr in die Vereinigten Staaten, wo er Edison traf und Vorlesungen an der Universität von Palo Alto hielt. Er kehrte nach Italien zurück, begrüßte den Sozialismus und wurde 1894 in den Stadtrat von Ivrea gewählt.

Zwei Jahre später legte er den Grundstein für das spätere Unternehmen Olivetti, in einem Gebäude aus rotem Backstein, das von den Fabriken in den USA inspiriert war. Er produzierte unter anderem Messinstrumente und hielt Schulungskurse ab.

Das klingt wie die Geschichte eines jeden Unternehmers der alten Welt. 1899 heiratete Camillo Luisa Revel, die ihm sechs Kinder schenkte. Unter ihnen war das zweite Kind, Adriano, das seinem Vater sehr ähnlich war. Er ist Einzelgänger, er verbringt seine Zeit lieber auf einer alten Zimmermannsbank, anstatt zu spielen, er redet nicht viel. Wie seine Brüder studierte er privat und lernte im Alter von 8 Jahren Lesen und Schreiben. Camillo versucht derweil, die Firma 1903 nach Mailand zu verlegen, kehrt aber nach vier Jahren nach Ivrea zurück. Er mag weder Schulden bei Banken noch die Vorstellung, sein Unternehmen ohne einen genauen Plan wachsen zu sehen. Heute würde jeder Unternehmer, auf der Suche nach Kapital von möglichen Investoren, die Türen weit öffnen. Camillo Olivetti hingegen schließt seine Türen und kehrt nach Ivrea zurück. Er hat die Absicht, etwas zu konstruieren und zu bauen, was er in den Vereinigten Staaten gesehen hatte, und das es in Italien noch nicht gibt: eine Schreibmaschine.

Das erste Problem besteht darin, dass viele Zahnräder, von denen einige Schlüsselstücke sind, von den US-Firmen Remington und Underwood patentiert wurden und nicht replizierbar sind. Camillo muss die Maschine fast von Grund auf neu konstruieren. Es gelingt ihm, aber damit sie funktioniert, braucht man mehr Teile, und die Kosten sind höher. Den ersten Prototyp für die Schreibmaschine M1 lieferte er im Februar 1902 an das Patentamt ab. Nach sechs Jahren der Verbesserungen gründete er am 29. Oktober 1908 die Firma Ing. C. Olivetti & C. Er achtet sehr auf das Design der M1. „Sie muss gleichzeitig seriös und elegant aussehen“, sagt Camillo. Das Ergebnis ist eine Maschine von überragender Qualität, von zeitloser Schönheit – und ein handwerkliches Werk, denn jedes Stück, aus dem sie besteht, ist handgefertigt. Die M1 Schreibmaschine kostet 500 Lire, zu einer Zeit, als eine Remington 450 Lire kostete und das Jahresgehalt eines Arbeiters 1000 Lire betrug. Als er die M1 Schreibmaschine 1911 in Turin auf der Weltausstellung zum fünfzigsten Jahrestag der Einheit Italiens präsentierte, verkaufte er die ersten 100 Schreibmaschinen an die Marine und das Postministerium. 1913 produzierte Olivetti 23 Maschinen pro Woche, und die Zahl der Arbeiter stieg auf 20. Alles scheint gut zu laufen, bis zum 1. Weltkrieg.

Um seine Pflicht als Bürger zu erfüllen, baut Camillo die Fabrik um und lässt Flugzeugteile herstellen. Diese vorübergehende Pause von der Produktion von Schreibmaschinen gibt ihm die Zeit zum Nachdenken und zur Neugestaltung der M1. Nach dem Krieg, als 1919 die Produktion wieder aufgenommen wurde, kam die M20 auf den Markt, die zwei neue Eigenschaften hatte. Die M20 ist leichter und hat einen festen Schlitten. Ein innovatives Merkmal, das sie von der Konkurrenz unterscheidet. Die italienischen Schreibmaschinen waren jetzt weltweit konkurrenzfähig. Underwood, der amerikanische Konkurrent kann sich eines enormen Kundenportfolios rühmen. Camillo Olivetti, jetzt einundfünfzig Jahre alt, setzt auf seinen Sohn Adriano. Adriano Olivetti schloss 1924 hat sein Studium des Chemieingenieurs ab und verbrachte zwei Jahre in den Vereinigten Staaten. Er studierte die Projekte, Entwicklungen und Lösungen amerikanischer Ingenieure, kehrte dann nach Italien zurück und trat 1926 in die Firma ein. Olivetti verkaufte in dieser Zeit 8.000 Maschinen pro Jahr.

Camillo betraut ihn nicht mit einer Führungsrolle, sondern setzte ihn am Fließband ein, wie jeden seiner 500 Arbeiter. Adriano erlebt hautnah, was die Arbeit am Fließband bedeutet. Drei Jahre später kommt er mit einem Projekt zur Reorganisation und Rationalisierung der Produktion in das Büro seines Vaters. Das Ergebnis ist verblüffend. Einerseits verbessern sich die Lebensbedingungen der Arbeiterinnen und Arbeiter in der Produktion und andererseits ermöglicht der Plan dem Unternehmen Einsparungen in Millionenhöhe. Zwei Jahre später gründete der Vater zusammen mit seinem Sohn Adriano und dem Ingenieur Gino Levi das Büro für Studien und Projekte, das aus der M20, die M40 machte. Ein Juwel der Technik, das den Namen Olivetti in die Welt hinaustragen sollte.

Adriano kümmerte sich vor allem um die Arbeiterinnen und Arbeiter, in der Fabrik. Ende der 1930er Jahre setzte er sich für außerordentliche Rechte für sie ein. In der Fabrik wurde ein Ausbildungszentrum für Mechaniker eingerichtet, und es gab einen Hilfsdienst, der den Beschäftigten bei der Gesundheitsbürokratie half, eine Krankenstation und eine Bibliothek. Die Arbeiterinnen und Arbeiter kamen in den Genuss von Preisnachlässen für Busfahrten, um zur Arbeit zu fahren, und die Zeiten für bezahlen Urlaub wurden verlängert. Olivetti baute am Meer und in den Bergen Ferienhäuser, damit seine Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen zu für ganz wenig Geld Urlaub machen konnten. Eine Kooperative, finanziert ein halbes Darlehen der Arbeiter, die ein Haus kaufen oder bauen wollen.

Alles ging gut, bis Mussolini 1938 die Rassengesetze gegen Juden in Kraft setzte. Camillo und Adriano retten den Ingenieur Levi, indem sie seinen Familiennamen in Martinoli ändern. Aber auch Camillo Olivetti ist Jude und zu sehr den Nachrichten präsent. Camillo überlässt deshalb die Präsidentschaft seinem Sohn Adriano, auch wenn er bis 1943 weiterarbeitet, als die Wehrmacht vor den Toren der Fabrik in Ivrea eintrifft. Adriano befiehlt den Arbeitern, die Arbeitsverträge sofort zu kündigen und nach Hause zu gehen, „um zu den Waffen zu greifen, um eure Häuser, eure Familien, euren Besitz zu verteidigen“. Camillo Olivetti sucht Zuflucht auf dem Land in Biella, während seine Frau sich in Vico Canavese versteckt und seine Kinder, darunter Adriano – von der Polizeidienststelle Aosta als „subversiv“ bezeichnet – über die ganze Welt verstreut sind. Camillo Olivetti stirbt am 4. Dezember 1943 allein in einem Krankenhaus, ohne zu wissen, ob seine Familie noch am Leben ist und was aus dem Werk, dem er sein Leben gewidmet hat, werden wird.

Die Nachricht vom Tod seines Vaters ist ein schwerer Schlag für Adriano. Während der Befreiung kollaboriert er mit den Alliierten. Von General Pietro Badoglio verfolgt, flieht er in die Schweiz und unterhält, von dort aus, enge Beziehungen zur Résistance. Sobald sich die Lage beruhigt hat und Italien befreit ist, kehrt er nach Hause zurück und eröffnet die Fabrik wieder, mit der Ziel, die Arbeit seines Vaters nicht nur fortzusetzen, sondern zu verewigen. Er hat die ausländische Konkurrenz studiert, ist visionär, kultiviert und wird von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern respektiert. Zusammen mit dem Ingenieur Capellaro entwickelt er die Divisumma, die erste elektromechanische 4 Spezies Rechenmaschine, die in der Lage ist, auch zu dividieren.

Sie ist die schnellste der Welt, man braucht 10 Stunden Arbeit, um sie zu bauen, und sie bringt dreimal so viel Gewinn wie eine Schreibmaschine und ist ein weltweiter Erfolg. Carlo de Benedetti, ab 1978 CEO von Olivetti, dessen Präsident er 1983 wurde und welches er bis zu seinem beruflichen Rückzug 1996 leitete, schreibt über diese Zeit: „Die Gewinnspanne der Divisumma 24 war unglaubliche 50%“.

Die Einnahmen haben sich verfünffacht, und dieses Geld ermöglichte Adriano den Aufbau der Forschungsabteilung, die 1950 Olivettis größtes Meisterwerk schuf, die Schreibmaschine Lettera 22.

Olivetti verkaufte 200.000 Stück pro Jahr. Die Lettera 22 war auch die Maschine der Schriftsteller, wie beispielsweise auch von dem deutschen Literatur Nobelpreisträger Günter Grass. Das Wachstum des Unternehmens wurde einmal mehr von der ständigen Verbesserung der Arbeitsbedingungen seiner Arbeiter begleitet. 1957 verdiente eine Olivetti Mitarbeiterin oder ein Mitarbeiter 60.000 Lire im Monat gegenüber durchschnittlich 40.000 Lire in anderen Unternehmen. Dazu kamen noch die Leistungen von Hilfs- und Sozialdiensten hinzukamen.

Jetzt eine kurze Geschichte, die die Denkweise und Handlungsweise von Adriano Olivetti zeigt. Als der Hausmeister die Schutzgitter aus den Regalen der Werksbuchhandlungen entfernt, sind am nächsten Tag bereits zehn Bände gestohlen worden. Er meldet es Adriano, der antwortet: „Gut! Dann lesen sie sie halt!“. Als Adriano einen Mitarbeiter entdeckt, der offenbar Konten gefälscht hat, um Geld abzuzweigen, beauftragt er Privatdetektive. Die sagen ihm, dass der Mitarbeiter weder trinkt noch spielt, sondern einfach eine große Familie hat und er das Geld offenbar zum Leben braucht. Adriano berechnet den Durchschnitt des Geldes, das der Arbeiter gestohlen hat, bestellt ihn dann in sein Büro und teilt ihm eine Lohnerhöhung in gleicher Höhe mit. Seine Art, das Unternehmen zu führen, wurde in ganz Italien berühmt, und 1957 zeichnete ihn die National Management Association of New York für „seine avantgardistische Aktion auf dem Gebiet der internationalen Unternehmensführung“ aus.

Adriano Olivetti ist sich sehr wohl bewusst, wie entscheidend die Schönheit eines Produktes, zum Beispiel einer Schreibmaschine oder Rechenmaschine, noch vor seiner Funktion, für dessen Erfolg ist.

1954 beauftragte er die Architekten Lodovico Barbiano, Enrico Peressutti und Ernesto Nathan Rogers mit der Gestaltung seines Verkaufsraums an der Fifth Avenue, der prestigeträchtigsten und berühmtesten Straße New Yorks. Er gibt ihnen präzise Hinweise, wie der Verkaufsraum aussehen muss. Der Verkaufsraum musste nicht nur technologische Exzellenz vermitteln, sondern auch Kultur und Ausstrahlung, genau wie sein Vater es ihn gelehrt hatte. Es scheint ein Widerspruch zu sein, aber die Architekten schaffen ein Geschäft aus Marmor und Stahl, mit großen transparenten Fenstern, die den Passanten ihre traditionellen Produkte neben den avantgardistischen Produkten zeigen.

Nachdem der Raum fertiggestellt wurde, bezeichnet das Time Magazine ihn als „das schönste Ladengeschäft auf der Fifth Avenue“. Bedeutet, Olivetti Produkte sind die schönsten in der westlichen Welt. Olivetti steht für die Zukunft, alles andere ist veraltet. 1959 kaufte Adriano Olivetti den amerikanische Konkurrenten Underwood, die Konkurrenzfirma, die seinen Vater gezwungen hatte, seine eigene Maschine in einem Schrank in Ivrea umzubauen. Adriano Olivetti starb 1960 in einem Zug in der Schweiz an einer Hirnthrombose. Olivetti überlebte weitere fast zwanzig Jahre lang, bevor es der Dynamik der Weiterentwicklungen erlag. Auch heute noch ist Olivetti mit seinem Gründer Camillo Olivetti und dessen Sohn Adriano Olivetti ein unvergleichliches Denkmal für das Ideal eines menschlichen und innovativen Unternehmens. In einer Zeit, in der die Gier nach Geld, Betrug, kriminelle Machenschaften auch in Weltunternehmen manchmal ganz oben, und die Menschlichkeit oft ganz unten steht, weist uns dieser Satz von Adriano Olivetti den Weg in die Zukunft der Unternehmensführung:

„Die Fabrik kann nicht nur nach dem Profit betrachtet werden. Die Fabrik dient auch der Vermittlung von Werten, Kultur, Dienstbarkeit und Demokratie“

Quelle: The Vision, 20149 Milano